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Lobbyismus in der EU: Katastrophal für Tier- Natur- und Klimaschutz

So wie in Deutschland eine mächtige Fleisch- und Milch Lobby in Regierung und Parlament(en) ihre Macht ausübt, Gesetze beeinflusst und die wahren Kosten tierischer Lebensmittel geschickt verschleiert, geschieht dies in ähnlicher – und für das Gemeinwohl und die Demokratie schädlicher – Manier in den Institutionen der EU. Zahlreiche internationale Studien belegen, dass die industrielle Tierhaltung und exzessive Landnutzung extrem negative Auswirkungen auf Umwelt, Klima, Tierwohl und die menschliche Gesundheit haben. Experten aus aller Welt betonen unisono, dass ein ein tiefgreifender Wandel des Agrar- und Ernährungssystems notwendig ist, um Menschen dauerhaft innerhalb ökologischer Leitlinien zu ernähren und die gesellschaftlich vereinbarten Umweltziele zu erreichen. Das ist wissenschaftlicher Konsens.

Doch trotz der Dringlichkeit eines weltumspannenden Tier- Umwelt- und Klimaschutzes leistet die gebündelte Macht der Tierindustrie – bestehend aus international agierenden Konzernen und Verbänden – massiven Widerstand gegen den notwendigen Wandel. Zudem werden Haltung und Zucht sogenannter Nutztiere und die industrielle Erzeugung tierischer Lebensmittel massiv durch öffentliche Gelder gefördert – sowohl in Deutschland als auch in der EU.

Beispiel: Milchindustrie
Ein anschaulich dreistes Beispiel für die Durchsetzung eigener Interessen bietet die Milchindustrie, die seit Jahrzehnten werbewirksam („Milch macht müde Männer munter“), hohem Marketingbudget und mit massiver staatlicher Unterstützung Milch (-Produkte) als unverzichtbar für die Gesundheit darstellt. Dieser gewinnträchtige Industriezweig darf an Schulen und Kindergärten für Milch werben und dessen Vertreter stimmen in Brüssel und Berlin für Gesetze, die den Konsum ankurbeln, dem Klima schaden und für unermessliches Tierleid verantwortlich sind.

Klimaschädliche Lebensmittel erhalten die meisten EU-Subventionen
Über 80 Prozent der EU-Agrarsubventionen fließen in die Produktion tierischer Lebensmittel. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, die im April 2024 in der Fachzeitschrift nature food veröffentlicht wurde. Ganz konkret bedeuten diese Zahlen: Bei jährlichen Agrarsubventionen in Höhe von derzeit 55 Milliarden Euro gibt die EU umgerechnet rund 45 Milliarden Euro pro Jahr für Fleisch-, Eier- und Milchprodukte aus. Erneut wird deutlich, wie die EU-Subventionspolitik den Umbau zu einem klimagerechten pflanzenbasierten Landwirtschaftssystem behindert. Das bremst nachhaltige Alternativen und festigt den Status quo. Zu diesem Schluss kommen Simona Vallone and Eric F. Lambin von der Stanford University im Fachjournal „One Health. Die Autoren untersuchen den Einfluss der Politik und der Lobbyarbeit von Handels- und Non-Profit-Organisationen in den USA und der EU. Ihr ernüchterndes Fazit: Die Regierungen behindern de facto den Ernährungswandel. Und die Industrie spiele dabei die entscheidende Rolle – durch mächtige Lobbyarbeit in den Parlamenten und in der EU.

Wie Lobbyisten die Ernährungswende blockieren
Lobbyisten der Tierindustrie können einen extrem hohen Einfluss in politischen Institutionen ausüben, da sie bestens vernetzt sind und ihre Vertreter Schlüsselpositionen in den Ausschüssen der EU besetzen. Wie eine Studie im Auftrag des NABU von 2019 feststellt, gelingen die Verbindungen in die Politik und die Agrarausschüsse des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments durch eine starke Verknüpfung zu Abgeordneten der CDU/CSU und der Europäischen Volkspartei (EVP). „So weisen 85 Prozent der Ausschussmitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag einen direkten Bezug zur Land- und Agrarwirtschaft auf. In der Agrarpolitik agiert eine relativ kleine Gruppe an Akteuren, die wesentliche Schlüsselpositionen unter sich aufteilen. Diese Multi- oder Vielfachfunktionäre stammen in erster Linie aus den Spitzen des Deutschen Bauernverbandes und seiner Landesverbände, so das Ergebnis der Studie.

Einflussreich: COPA-COGECA
Ein besonders mächtiger Lobbyverband in der industriellen Tierwirtschaft ist die COPA-COGECA, die einflussreichste europäische Lobbyorganisation im Agrarbereich, die sich als die vereinte Stimme der Landwirte und ihrer Genossenschaften in der Europäischen Union bezeichnet. Dieser Verband ist in nahezu allen Brüsseler Gremien aktiv ist. Laut einer Studie der Organisation Corporate Europe Obervatory von 2014 entfallen 442 von insgesamt 943 Sitzen in Arbeitsgruppen der Generaldirektion für Landwirtschaft auf Vertreter von COPA-COGECA. Der Verband vertritt allerdings nur die Interessen der großindustriellen Betriebe, nicht die der kleinen Landwirte, so Nina Holland, Agrarexpertin bei der Organisation „European Corporate Observatory“. In Brüssel will die Lobby der Milchindustrie vor allem erreichen, dass sie weiterhin günstig exportieren kann. „Ihr größtes Interesse ist der Zugang zu freien Märkten“, sagt Nina Holland. Die Exporte von deutschen Milchbäuerinnen und -bauern steigen Jahr für Jahr an – zum Beispiel nach Südafrika, Brasilien und China. In Wahrheit aber, sagt Holland, „ruinieren europäische Exporte Kleinbauern in anderen Ländern – und sind klimapolitisch eine Katastrophe“.

EU-Kommission scheut Konflikt mit Wirtschaft und Lobbyverbänden
Anstatt also wirksame Gesetze für eine Politik durchzusetzen, die klima- und tierfreundliches Wirtschaften belohnt, scheuen Politiker in Brüssel und Berlin den Konflikt mit den Lobbyverbänden der Wirtschaft. Der Austausch zwischen Lobbyisten und EU-Gesetzgebern findet häufig fernab der öffentlichen Wahrnehmung statt und entgeht dabei den Transparenzregeln in der EU. Der EU-Rechnungshof kritisierte jüngst bei den EU-Institutionen massive Mängel im Umgang mit Lobbyisten. Besonders dreist agiert eine neue Lobbygruppe, die European Livestock Voice (ELV), die 2019 als aktivistisches EU-weites Netzwerk von Verbänden der Agrarindustrie gegründet wurde, darunter COPA-Cogeca, die European Dairy Association, Avec (Geflügel), und AnimalhealthEurope (Pharma).

Lobbyismus wird mit PR massiv unterstützt
ELV nutzt geschickt Taktiken von NGOs wie zum Beispiel Flashmobs und Social Media Kampagnen zur Förderung der eigenen Interessen. So erklärte Anfang des Jahres deren Vorsitzender in Brüssel, Andrea Bertaglio, dass man sich in Brüssel auf die Überarbeitung der Tierschutzgesetze konzentriere.  Laut Lighthouse Report ist die ELV nicht im EU-Transparenzregister aufgeführt, und die Gruppe lehnt es ab, Fragen zu ihrer Lobbyarbeit gegen das Tierschutzpaket zu beantworten. Es scheint jedoch klar zu sein, dass die ELV aktiv versucht, EU-Entscheidungsträger zu beeinflussen. EU-Beamte berichteten von aggressiver Lobbyarbeit. Wissenschaftliche Gutachten zum Tier- und Klimaschutz werden angegriffen und verwässert.

Es kann nicht sein, dass Lobbyisten der Agrarindustrie notwendige Reformen verhindern und noch dazu den Großteil der EU-Agrarsubventionen einstreichen. Die Mehrheit der EU-Bürger:innen will mehr Tierschutz. Dies zeigte das letzte EU-Barometer. Wenn Lobbyisten die politische Agenda nach ihren Interessen setzen können, werden demokratische Regeln außer Kraft gesetzt. EU-Kommission und EU-Parlament müssen realisieren, dass sie ihr eigenes Mandat verspielen, wenn sie sich zu Handlangern der Agrarlobby machen.

Steffanie Richter