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Interview zum EU-Agrarlobbyismus: „Die Industrie schlägt mit aller Macht zurück“

Die Umweltwissenschaftlerin Nina Holland arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory mit Sitz in Brüssel. Sie forscht schwerpunktmäßig zur Lobbyarbeit der Agrar- und Lebensmittelindustrie, insbesondere zum Einfluss von weltweit agierenden Unternehmen auf die Politikgestaltung der EU. Im Interview erklärt sie, mit welchen Strategien die Agrarlobby die Farm to Fork Strategie des Green Deals zum Scheitern bringen will, wie rechtsextreme Gruppen die Wut der Bauern instrumentalisieren und was passieren muss, um die notwendige sozial-ökologische Transformation zu retten.

Können Sie kurz zusammenfassen, wie die Lobbyarbeit der Agrarindustrie auf EU-Ebene funktioniert?
In Brüssel gibt es etwa 30.000 Lobbyisten. Mindestens 75 Prozent von ihnen arbeiten für den privaten Sektor. Jeder große Konzern wie Bayer, Shell oder Coca-Cola hat hier sein eigenes Lobbybüro. Die Lobbystrategien werden von Lobbyverbänden für jeden einzelnen Sektor ausgearbeitet und durchgeführt. Es gibt mindestens 1.500 dieser Verbände, darunter Croplife Europe (Pestizide), CEFIC (Chemikalien), FoodDrinkEurope, die European Livestock and Meat Trade Union (UECBV) und andere. Diese Lobbyverbände sorgen dafür, dass die gleichen Lobbytaktiken auch in den EU-Mitgliedstaaten angewandt werden, die im Rat über neue Gesetze abstimmen. Mit ihren immensen Lobbybudgets können die Konzerne und Lobbyverbände die Lobbyarbeit an Spezialisten auslagern wie Beratungs- und Anwaltskanzleien – von denen es auch im EU-Viertel Hunderte gibt. Was die Agrarindustrie betrifft, so haben zehn Lobbyverbände eine eigene Allianz namens Agri Food Chain Coalition gebildet, die bei wichtigen Themen wie bei der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP ) oder der Farm-to-Fork-Strategie zusammenarbeiten.

Welche Strategien nutzen sie?
Unternehmenslobbys haben viele Strategien. Da sie über große Kapazitäten verfügen, können sie ständig Akten und Entscheidungszeiträume verfolgen. Es ist sehr wichtig für sie, immer zu einem möglichst frühen Zeitpunkt einzugreifen, da es effektiver ist, neue Umwelt-, Sozial- oder Tierschutzgesetze zu verhindern, wenn man die Diskussion zu einem frühen Zeitpunkt beeinflusst. Wenn es doch zu Vorschlägen kommt, ist eine häufig angewandte Strategie die, Politiker mit ihren eigenen Zahlen zu erschrecken. Mit Zahlen also, die wirtschaftliche Verluste, Arbeitsplatzverluste oder eine geringere Produktivität in der Landwirtschaft belegen sollen. Zu diesem Zweck finanzieren sie ihre eigenen, sehr einseitigen „Auswirkungsstudien“, die sie bei Forschungsinstituten in Auftrag geben, um ihnen einen akademischen Anschein zu verleihen.
Andere Strategien bestehen darin, wichtige Expertengruppen der Europäischen Kommission zu dominieren oder eine Greenwashing-Kampagne zu organisieren.

Welche Rolle spielt Copa-Cogeca, der größte europäische Verband im Agrarbereich?
Für die Agrarkonzerne ist es von großer Bedeutung, mit der „Bauerngewerkschaft“ Copa-Cogeca zusammenzuarbeiten, die in Wirklichkeit nur die Interessen der 20 Prozent größten Landwirte vertritt. Dies gibt Lobbygruppen wie Croplife jedoch die Möglichkeit, sich als „Verbündete der Landwirte“ auszugeben. Sie haben sogar eine mit Copa-Cogeca koordinierte Kampagne inszeniert, um die EU-Strategie „Farm to Fork“ zu verzögern und zum Scheitern zu bringen. Selbst die schreckliche russische Invasion in der Ukraine wurde von Copa-Cogeca, der Agrarindustrie und der konservativen EVP-Fraktion als Vorwand genutzt, um sich gegen den Green Deal zu wehren und die Diskussion auf die kurzfristige Ernährungssicherheit zu verlagern, obwohl die Argumente irreführend waren.

Wieviel Einfluss hat die European Livestock Voice (ELV)?
European Livestock Voice ist eine Plattform für Copa-Cogeca und für die Milch- und Fleischindustrie, um die weit verbreiteten Forderungen nach weniger Fleischkonsum und höheren Tierschutzstandards zu bekämpfen. Sie zielen darauf ab, die allgemeine Meinung in Brüssel zu einem bestimmten Thema zu ändern, was relativ einfach zu bewerkstelligen ist, da es keine allgemeine öffentliche Debatte gibt. Sie füttern die traditionellen politischen Verbündeten (vor allem die christdemokratische EVP-Fraktion) mit vorgefertigten Argumenten und schaffen viele Gelegenheiten, wie z. B. Medienveranstaltungen, um ihnen Gehör zu verschaffen.

Welche Chancen sehen Sie für Tierschutz- und Umweltorganisationen, angesichts der schier überwältigenden Macht großer Lobbygruppen?
Angesichts des Wahlkampfgetöses der rechten Parteien konzentriert sich die EU derzeit wieder ausschließlich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und entfernt sich von den besseren Visionen für die Landwirtschaft, die durch die EU-Strategie Farm to Fork Einzug gehalten haben. Tierschutz- und Umweltgruppen müssen so laut und allgegenwärtig wie möglich bleiben, sowohl auf lokaler, nationaler als auch auf EU-Ebene, um ein möglichst großes Gegengewicht zu bilden. Wir werden wieder auf die Straße gehen müssen, um unseren Forderungen Gehör zu verschaffen, aber noch mehr, um als Bewegung zu wachsen. Nationale Gruppen können noch genauer verfolgen, was ihre Europaabgeordneten und Minister in Brüssel tun, und sie zur Rechenschaft ziehen. Und schließlich ist es wichtig, mit denjenigen Bauernorganisationen zusammenzuarbeiten, die sich für agrarökologische Praktiken, eine Marktregulierung zur Erzielung eines fairen Einkommens und gegen Freihandelsabkommen und die Ausbeutung der Bauern durch die Agrarindustrie einsetzen.

Können Sie etwas zu den Verbindungen zwischen diesen Lobbygruppen und den konservativen, rechtsgerichteten und ultrarechten Parteien sagen?
Die Christdemokraten dominieren traditionell die großen Bauernverbände und die Landwirtschaftsministerien. Die Landwirte wiederum sind von diesen Bauernverbänden, die ihren Mitgliedern alle möglichen Dienstleistungen anbieten, abhängig. Nun aber, da viele Landwirte erkennen, dass die von rechten Kräften betriebene Agrarpolitik ihnen keinen angemessenen Lebensunterhalt ermöglicht, haben andere (rechtsextreme) Gruppen diese Wut instrumentalisiert und geben sich als Alternative aus. Dies ist sehr gefährlich.

Was bedeutet die Lobbyarbeit der Agrarindustrie für die Demokratie?
Das Ausmaß der Vereinnahmung durch Unternehmen sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene bedeutet, dass die Demokratie nicht funktionieren kann. Die Stimmen der Bürger, die vom Klimawandel oder den gesundheitlichen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft betroffen sind, werden völlig ignoriert. Ein paar Jahre lang gab es eine gewisse Öffnung für neue Vorschläge, die dem öffentlichen Interesse besser dienten. Aber jetzt, kurz vor den Wahlen, sehen wir, dass die Industrie mit aller Macht zurückschlägt. Sie schlägt einen „Europäischen Industriedeal“ vor, um sicherzustellen, dass der „Green Deal“ und „Farm to Fork“ vollständig abgelehnt werden und dass grüne Vorschläge in den kommenden Jahren keine Chance haben werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie Erfolg haben!

Laut einer neuen Studie fließen derzeit rund 82 Prozent der EU-Agrarsubventionen in die Produktion von tierischen Lebensmitteln. Was wäre Ihrer Meinung nach notwendig, um hier einen Paradigmenwechsel einzuleiten?
Mit der Farm to Fork-Strategie wurde bereits ein Anfang des Umdenkens gemacht. Wir sollten nicht bei Null anfangen müssen. Bürgerinitiativen und Landwirte müssen zusammenarbeiten, um für eine kommende Gemeinsame Agrarpolitik zu kämpfen, die keine Massentierhaltung finanziert und sowohl fair als auch grün ist.

Als Reaktion auf die Bauernproteste verabschiedet sich die EU-Kommission zunehmend von den Zielen des Green Deals. Haben Sie Hoffnung, dass die Stimmen für Tierschutz und Klima noch gehört werden?
Wir müssen uns lautstark all jenen Stimmen in rechten Parteien, in Organisationen wie Copa-Cogeca und ihren Mitgliedern entgegenstellen, die die Proteste der Landwirte instrumentalisiert haben. Die grundlegende Forderung ist die nach einem gerechten Einkommen, auf das alle Arbeitnehmer Anspruch haben sollten, und darin sollten wir uns solidarisch zeigen. Andere politische Parteien sollten glaubwürdige Vorschläge machen, wie sie die Landwirte bei einem ökologischen und gerechten Übergang unterstützen wollen.

Die Fragen stellte Steffanie Richter